LESEPROBE
Überleben – nie aufgeben!
Sich wehren, wenn alles dagegenspricht
Neunzehn Jahre Lebenszeit hatte meine Frau Angela dem Tod abgerungen. Neunzehn Mal Frühling, neunzehn Mal Weihnachten mit den gemeinsamen Kindern, neunzehn gemeinsame Sommer und Geburtstage. Sehen, wie die Kinder erwachsen werden, sich freuen und leben.
Wir hatten bereits zwei kleine Kinder, als Angela im dritten Monat schwanger war. Plötzlich verspürte sie im Arm große Schmerzen und rief mich bei der Arbeit an. Ich riet ihr, unsere Kinder zu ihrer Mutter zu bringen und sofort zu einem Orthopäden zu gehen, was sie auch umgehend tat.
Während der kurzen Untersuchung kippte sie einfach um, zitterte und bekam Schaum vor dem Mund. Sie konnte noch die Worte des Orthopäden hören, der zu seiner Angestellten sagte: »Scheinbar wieder eine Süchtige. – Rufen Sie den Krankenwagen! Ich mache Mittag und gehe essen. – Mahlzeit!«
Meine Frau fiel in ein Wachkoma und wurde in eine Klinik gebracht, dort in einen Operations- oder Untersuchungsraum. Man entfernte ihren Halsschmuck, Armbänder, knipste den Ehering ab und entkleidete sie. Was um sie herum alles geschah, konnte sie nicht sehen, denn Angelas Augen waren schon gelähmt. Aber sie konnte hören und geriet innerlich in Panik, als die Ärzte sagten: »Der ist nicht mehr zu helfen! Lasst sie ins zuständige Klinikum bringen!«
Leider fand auch dort niemand die Ursache ihrer Erkrankung.
Etwa fünfzig Kilometer entfernt aber gab es eine Klinik für Wachkomapatienten, die wir nach einer endlos scheinenden Irrfahrt erreichten. Nach vier Stunden ununterbrochenen Untersuchungen erhielt ich das schockierende Ergebnis: Locked-in-Syndrom!
»Sie ist wie eingeschlossen im eigenen Körper«, so die Diagnose, »vollkommen gelähmt von den Haarspitzen bis in die Zehen, einschließlich der Augen, des Kehlkopfes sowie der Zunge. Sie wird künstlich beatmet, kann die Menschen um sich herum jedoch wahrnehmen.«
Angela war wie scheintot, gefesselt in einer grausamen Starre. Aber sie konnte den Oberarzt verstehen, der empfahl, die Geräte nach sechs Tagen abzustellen. Und sie musste auch mein Schreien hören: »Keiner stellt hier irgendwas ab!« Rasch beruhigte ich mich wieder. »Verlass dich auf mich«, flüsterte ich ihr zu. »Ich lasse dich nicht im Stich. Wir packen das!«
Das Locked-in-Syndrom ist unheilbar, teilten mir die Ärzte mit. Auch das Baby in Angelas Bauch sei nicht zu retten. Es wäre ohnehin schwerstbehindert – geistig als auch körperlich – und würde mit Angela sterben. Das Gehirn meiner Frau wäre zerquetscht, und nur noch der funktionale Teil des Denkens erhalten, der jedoch keinerlei Einfluss auf ihre Lebensfähigkeit hätte.
Die Ärzte hatten die geliebte Mutter meiner Kinder aufgegeben …
Doch ich wollte es nicht wahrhaben!
Sechs Tage lang warteten die Ärzte ab, ob sich eine Besserung einstellte.
Sechs Tage lang rührte sich nichts.
In dieser schrecklichen Zeit der Angst wurde Angela verlegt, doch niemand sagte mir etwas davon. Nie mehr werde ich das wilde Pochen meines Herzens vergessen, als ich an diesem einen Tag in der Klinik auftauchte, die Intensivstation betrat und zu ihrem Bett ging.
Es war leer!
Das Bettzeug war abgezogen, sämtliche Geräte und Apparaturen entfernt.
Meine Beine zitterten. Ich hatte das Gefühl, umzukippen. Und in meinen Gedanken gab es nur eine schreckliche Schlussfolgerung: O Gott! Sie ist tot!
Der Oberarzt erklärte mir die Situation, berichtete von der Verlegung in die Heimatklinik. Ich rannte sofort ins Freie, stürzte in meinen Wagen und eilte zu meiner Frau.
Sie hatte ein Einzelzimmer und ich könne in einem zweiten Bett neben ihr Wache halten, bis sie verstorben wäre. Das sagte mir der verantwortliche Arzt des Klinikums. Bis zu einundzwanzig Tage würde er ihr noch geben. Jedoch konnte der Tod jederzeit eintreten. Ich solle Angela darauf vorbereiten und von ihr Abschied nehmen.
Ich explodierte, war empört über diese Aussage und verlangte, den Chefarzt zu sprechen.
Es wurde ein langes Gespräch. Niemand hätte bisher diese Krankheit überlebt. Auch der Chefarzt der Neurologie in der Universitätsklinik hätte geraten, die Geräte rechtzeitig abzustellen.
Ich flehte den Mann an, es nicht zu tun. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Da waren doch noch unsere beiden kleinen Kinder, die erst ein und vier Jahre alt waren.
Er lächelte mich an in seiner warmen und vertrauensvollen Art. »Nun gut, ich sie stelle nicht ab. Vielleicht geschieht doch noch ein Wunder.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Glauben Sie an Wunder, Herr Röhrdanz?«
In diesem Moment war ich völlig sprachlos, zuckte mit den Schultern und schüttelte verlegen meinen Kopf.
»Es wird viel Ärger geben«, meinte der Chefarzt. »Mit den Kollegen, aber auch anderen Professoren. Doch ich gehe das Risiko ein: Wir stellen nicht ab!«
Es begann eine Zeit des Bangens, aber auch der Hoffnung. Jeder einzelne Tag zermürbte mich mehr, doch Aufgeben gab es bei mir nicht. Der zuständige Oberarzt sprach allerdings kein Wort mehr mit mir. Wenn wir uns begegneten, schaute er sofort weg.
Jeden Tag besuchte ich Angela im Klinikum, war morgens um acht Uhr bei ihr, ging danach zur Arbeit und kehrte um dreizehn Uhr zu ihr zurück. Immer nur für eine Stunde. Dann wieder zur Arbeit, um siebzehn Uhr nach Hause zu den Kindern, die von meinen Verwandten betreut wurden, und um zwanzig Uhr endlich wieder zu Angela ins Klinikum. Dort durfte ich bis Mitternacht bleiben.
Eines Tages klingelte bei mir im Büro das Telefon. Der Chefarzt war am anderen Ende der Leitung und bat mich, unverzüglich zu kommen. Aber ich solle vorsichtig fahren, denn er hätte eine erfreuliche, geradezu sensationell gute Nachricht für mich.
Sofort machte ich mich auf den Weg, hastete vom Parkplatz ins Klinikum und rannte die Treppen hoch in die vierte Etage. Keuchend erreichte ich Angelas Zimmer.
Der Chefarzt saß schon neben ihrem Bett und lächelte mich an. Er sagte mir, ich solle auf Angelas Mittelfinger achten und dabei ganz genau hinschauen.
Mit einem kleinen Stab tippte er den Finger an, doch ich sah vor lauter Aufregung keine Bewegung. Der Chefarzt wiederholte es mehrmals, bis ich es auch bemerkte: Angelas Finger bewegte sich kaum sichtbar.
»Sie hat jetzt eine kleine Chance«, meinte der Mediziner. »Von Tag zu Tag könne es besser werden – von den Fingern zur Hand, dann hoch zum Unter- und Oberarm.«
Nach Wochen und Monaten schaffte es Angela! Sie machte es so gut, dass der Chefarzt von einer Sensation sprach. Mehr und mehr Bewegungen waren hinzugekommen, sodass die größte Sorge nun dem ungeborenen Baby galt. Genau wie meine Frau wurde es über eine Sonde ernährt, und schließlich gelang es, das Kind per Kaiserschnitt zu holen.
Was hatte man mir noch prophezeit? Geistig und körperlich schwerstbehindert? Doch keine Spur davon! Es war eine gesunde Frühgeburt, ein Junge, der sofort im Glaskasten mit dem Hubschrauber in ein Kinderklinikum geflogen wurde.
Im Anschluss an diese Geburt machte Angela immer größere Fortschritte. Schon nach einem knappen Jahr in der Reha lernte sie wieder laufen, sprechen, schlucken und essen. Nach fast sechs Jahren war sie nahezu vollkommen gesund. Gemeinsam mit unseren Kindern hatten wir noch viele Jahre Freude miteinander…
Ihr gesundheitlicher Zustand hatte sich in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich gebessert. Im Dezember 2007 sollte Angela wieder einmal in Kur gehen. Der Chefarzt des
Klinikums hatte ihr diesen Vorschlag gemacht, denn immer noch war meine Frau äußerst gestresst und musste unbedingt neue Kräfte sammeln. Einen Tag vor Antritt der Kur ging sie mit mir noch einmal auf den Friedhof an das Grab ihres Vaters und ihrer Großmutter. Wir wurden auf das neu erbaute Kolumbarium aufmerksam, eine riesige ovale Urnenwand. Beinahe andächtig standen wir davor, bis Angela plötzlich auf eine Aussparung zeigte. »Schau dir dieses Fach an und merke es dir«, sagte sie tonlos und fügte mit stockender Stimme hinzu: »Wenn ich sterbe, möchte ich in diesem Fach beigesetzt werden …«
Mein Atem ging schneller und ein Schauer lief mir über den Rücken. »Wieso beigesetzt? Du bist erst siebenundvierzig.« Als wollte ich mich selbst beruhigen, sagte ich ihr: »Wenn hier einer stirbt, dann bin das ja wohl ich.« Das meinte ich durchaus ernst, schließlich trennten uns sechzehn Jahre.
Ich machte mir darüber weiter keine Gedanken, denn am nächsten Tag sollte sie ihre Kur antreten. Drei Wochen waren ihr vorab genehmigt worden; dann noch einmal zwei Wochen Verlängerung.
Ausgerechnet in der letzten Woche ihres Kuraufenthaltes wurde sie krank. Eine große Grippewelle grassierte zu dieser Zeit in Deutschland und erfasste auch sie. Angela bekam Fieber, Hals- und starke Rückenschmerzen; sie lag nur noch im Bett. In der Klinik herrschte anscheinend ziemliches Chaos, denn niemand kümmerte sich um Angela. Auch machte sie in diesen sieben Tagen keine Therapiestunden mehr mit. Einer Mitpatientin, von Beruf Krankenpflegerin, verdankte sie ein wenig Hilfe.
Am Tag ihrer Entlassung holte ich sie mit dem Auto in der Kuranstalt ab. Angelas Zustand war erschreckend. Es wurde weder eine Blutuntersuchung noch ein EKG gemacht, was meines Erachtens nach dem Kuraufenthalt dringend geboten gewesen wäre. Selbst die Entlassungspapiere waren nicht ausgestellt worden und konnten somit auch nicht ausgehändigt werden. Das Personal hatte mit den Neuankömmlingen alle Hände voll zu tun, die überall mit ihren Koffern und Taschen saßen und standen. Die Mitpatientin, die sich so fürsorglich um Angela gekümmert hatte, meinte, wir sollten den Heimweg antreten. Was hier ablaufen würde, wäre ein Skandal.
Während der Fahrt erzählte Angela mir, dass sie eine Überraschung für mich hätte, die Udo Jürgens beträfe. Aber diese Überraschung konnte sie mir nie mehr mitteilen, denn meine Frau verstarb urplötzlich nach diesem Kuraufenthalt. Nur einen einzigen Tag später.
Wie sich bald darauf herausstellte, hatte sie ein Grippevirus befallen. Ihre Rückenschmerzen waren nichts anderes als ein Hinterwandinfarkt gewesen. Eine Niere war total zerstört, die andere nicht weit davon entfernt. Kurzfristig und unverhofft erlag sie ihren Beschwerden auf der Intensivstation eines Herzzentrums, in das sie gebracht worden war.
Ich erinnerte mich an den Chefarzt des Herzzentrums, der aus dem OP zu mir gekommen war und erklärt hatte, dass er Angela eine Pumpe zur Unterstützung des Herzens eingebaut hat. Aber er erklärte mir auch, dass es wohl zu spät sei und Angela nicht überleben würde. Kurzfristig wurde sie auf die Intensivstation verlegt.
Als ich sie später besuchte, nahm sie meine rechte Hand, streichelte sie mit ihrem Daumen und drückte sie mehrmals. Sie hielt ihre Augen geschlossen, obwohl ich sie bat, sie möchte sie öffnen und mich anschauen. Aber sie lächelte nur, öffnete ihre Augen nicht und streichelte weiterhin über meine Hand. Für einen flüchtigen Moment drückte sie etwas fester, bis der Druck verschwand. Für immer.
Angela hatte Abschied von mir genommen …
Immer wieder waren meine Gedanken bei meiner über alles geliebten Frau. Wieso hatte sie so plötzlich sterben müssen? Sie hatte es doch geschafft, nach all den Jahren wieder ins Leben zurückzukehren. Wir hatten doch noch wundervolle neunzehn Jahre verbracht. Unser Sohn war mittlerweile ausgezogen, Louis und Marcel, waren uns damals vom Jugendamt übergeben worden.
Louis war zu jener Zeit ein Jahr, Marcel drei. Wir bekamen sie als Pflegeeltern für
Verwandtenpflege in Vollzeit. Zum Glück war mein Neffe Simon noch da, der mich nach Angelas Tod unterstützte. Er hatte einen Ausbildungsplatz bei einer großen Sanitärfirma und arbeitete längere Zeit in der Nähe unserer Wohnung. Die Entfernung zu seinem Elternhaus war groß, die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kompliziert und vor allem teuer. Seine Eltern waren mehr als erleichtert, ihren Sohn bei uns gut aufgehoben zu wissen. Und ich war heilfroh, ihn um mich zu haben. Ein toller Kamerad, den auch die Jungs sofort akzeptierten. Als meine Enkel in den Kindergarten kamen, sah Simon bereits seinem Ausbildungsende entgegen.
»Diese verdammte Kur«, brummelte ich so manches Mal vor mich hin. »Warum hat sie die nur angetreten?« Vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn …
Die Diagnose der Ärzte bezüglich ihres plötzlichen Todes war so grausam, so erschütternd, dass ich mich einfach nicht damit abfinden konnte. Der Chefarzt des Herzzentrums hatte auch keine genaue Erklärung dafür, wie das geschehen konnte. Unfassbar für mich, dass Angela in diesem Kurklinikum mit hohem Fieber gelegen hatte, mit heftigen Schmerzen im Brust- und Rückenbereich – und kein Arzt hatte sie untersucht! Weder vor noch nach ihrer Entlassung. Nach Meinung des Chefarztes hätte ein Gesundheitscheck alles über Angelas Zustand aufgezeigt und es hätte noch eine Chance gegeben, dass sie überlebt.
Ich machte mir gewaltige Vorwürfe, sie nicht schon nach den ersten drei genehmigten Wochen am 24. Dezember in der Kurklinik abgeholt zu haben, denn da war sie noch gesund gewesen und hatte keine Anzeichen einer Grippe gezeigt. Und was für ein Ärger und Aufwand war es gewesen, eine Verlängerung in der Kuranstalt zu bekommen. Angela hatte noch einige Tage zuvor mit mir telefoniert, mir gesagt, dass sie nach Aussage des Arztes noch länger als die drei bewilligten Wochen bleiben müsste. Der Verlängerungsantrag wäre an die zuständige Krankenkasse gesendet worden. Aber am Abend des 23. Dezembers 2007 war ihr mitgeteilt worden, dass die Genehmigungsunterlagen von der Kasse nicht da waren. Eine Abreise an Heiligabend wäre daher unvermeidlich.
Angela war völlig verdutzt gewesen, fühlte sich regelrecht »verarscht« und telefonierte aufgeregt mit mir, was sie denn nun machen sollte. Als Alternative hatte man ihr lediglich angeboten, die Verlängerung aus eigener Tasche zu bezahlen.
Ich sagte zu Angela: »Du reist nicht ab! Warte auf meinen Anruf! Ich versuche, das Ganze zu klären. Und wenn du dadurch einige Tage länger dort bist, dann zahlen wir das halt!« Natürlich war ich völlig aufgebracht vor Wut. Was sollte das? Spinnt nun die Klinik oder die Krankenkasse?
Sofort schaute ich ins Internet und ins Branchenbuch, versuchte, die Rufnummer der Kasse herauszubekommen. In meinem Gehirn tickerte es unentwegt, denn was nützte mir die Telefonnummer? An Heiligabend würde die Krankenkasse ohnehin geschlossen haben.
Aber halt! Da waren ja noch die beiden Mitarbeiter, mit denen ich immer zu tun gehabt hatte. Schon damals, als Angela ins Wachkoma gefallen war, hatten sie mir stets geholfen. Aber wie hießen sie noch? Und wie lauteten ihre Privatadressen?
Ein Puzzle- und Geduldsspiel lag vor mir. Die ganze Nacht hindurch grübelte ich, dachte immer nur an diese Kurklinik, an Angela und an die Krankenkasse mit ihren beiden Mitarbeitern.
Als es endlich Morgen war, konnte das Detektivspiel beginnen. Ich wählte mehrmals die Telefonnummer der Kasse, aber es war zwecklos. Kein Mensch war zu erreichen.
Ist ja auch kein Wunder, ratterte es in mir, schließlich haben wir ja auch Heiligabend. Natürlich fielen mir die Namen der zwei Mitarbeiter immer noch nicht ein, doch plötzlich erinnerte ich mich an die damaligen Krankenkassenunterlagen. In den dicken Aktenordnern waren bestimmt Briefunterlagen mit den Unterschriften der Mitarbeiter beziehungsweise des Abteilungsleiters zu finden.
Daumen drücken!, schoss es mir durch den Kopf. Bitte, bitte lass sie hier im Umkreis wohnen und auch im Telefonverzeichnis stehen! Ich war nervös und nass geschwitzt.
Verdammt! Der erste Mitarbeiter stand nicht drin, auch nicht in den Nebenorten. Auf der Stelle nahm ich mir den Zweiten vor. »Lieber Gott, hilf mir!«, murmelte ich vor mich hin und blätterte in den Seiten.
Dann die Erlösung: »Yeah, yeah!«, schrie ich lauthals. »Ich habe ihn! Ich habe ihn!«
Meine Finger zitterten, als ich die Nummer des Abteilungsleiters wählte. Was würde ich tun, wenn er nicht da war? Und falls er doch ans Telefon ging: Was sollte ich ihm sagen? Schließlich war Weihnachten, da wollte jeder seine Ruhe haben.
Bestimmt schlafen die noch oder sind weggefahren, malte ich mir in Gedanken aus. Bloß das nicht!
Ein Freizeichen ertönte. Mein Herz pochte bis zum Hals, und ich schnaufte in diesem Moment wie eine alte Dampflokomotive. Aber mir war es egal. Alles war mir egal.
Unerträglich lang dröhnte das Freizeichen in meinen Ohren. »Bitte, bitte, nehmen Sie ab«, hauchte ich. In mir rumorte es; die Gedanken jagten sich in meinem Kopf.
»Pengel!«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
Er war es! Ich hatte ihn sofort erkannt. »Hallo, Herr Pengel!« Ich stammelte herunter, was passiert war.
Geduldig hörte Herr Pengel mir zu, verlor kein Wort über die Störung und auch kein Wort wegen seiner Familie, die das Weihnachtsfest zu feiern gedachte. Im Gegenteil, er wirkte ausgesprochen aufgeschlossen und versuchte, sich an den Kurvorgang zu erinnern. Schließlich meinte er, dass er gestern, am 23., bis zum Schluss im Büro gewesen war, aber keine Post vom Klinikum erhalten hätte. Denn als Leiter der Kasse hätte er immerhin diese Verlängerung genehmigen müssen.
»Kann es sein, dass ein Fax gesendet wurde?«, fragte ich ihn, doch er verneinte. Zu meiner Verblüffung aber schlug er vor, sich ins Auto zu setzen und ins Büro zu fahren. Dort wollte er sich noch einmal genauestens umsehen und mich zurückrufen.
Meine Güte, was war Herr Pengel pfiffig und hilfsbereit. »Klasse, klasse!«, rief ich freudig erregt in den Hörer und jubelte innerlich. »Haben Sie vielen Dank!« Ich legte auf, wählte aber sofort neu und rief in der Zwischenzeit Angela an. Sie solle sofort in der Kurklinik Bescheid sagen, dass Herr Pengel unterwegs wäre. Dann setzte ich mich in die Diele neben das Telefon. Jede Minute des Wartens kam mir wie eine Ewigkeit vor. Als das Telefon irgendwann klingelte, zuckte ich wie unter einem Stromschlag zusammen.
»Hallo, Herr Röhrdanz«, meldete sich Herr Pengel. »Ich habe alle Posteingänge der letzten Tage durchgesehen, aber nichts gefunden. Unsere letzte Chance ist der Fax-Raum.«
O je, wieder dieses Warten! Es zerrte an meinen Nerven und zermürbte mich.
»Mensch, Herr Röhrdanz!«, schallte es mir plötzlich entgegen. »Das ist ja ein Ding! Die Klinik hat anscheinend alles verschlafen und heute Morgen wohl kalte Füße bekommen. Es liegt tatsächlich ein Fax vor, mit Eingangsdatum 24. Dezember, 9.36 Uhr. Ganz schön link, wie die da arbeiten und es auf die Kasse schieben. Durch Ihren Druck sind die anscheinend aufgewacht, haben das Fax schnell gesendet und wohl angenommen, dass bei uns sowieso keiner mehr ist. Damit wären sie aus dem Schneider gewesen.«
Mir blieb fast das Herz stehen.
»Machen wir es kurz«, fuhr Herr Pengel fort. »Ich rufe jetzt sofort die Kurklinik an, werde das Fax für die Verlängerung unterzeichnen, abstempeln und denen zurücksenden. Sagen Sie Ihrer Frau, dass sie bleiben kann, und bestellen Sie ihr ein frohes Fest von mir und auch einen guten Rutsch ins neue Jahr. Das Gleiche wünsche ich natürlich auch Ihnen und Ihren Kindern.«
<<<Michael Röhrdanz>>>